Wyschywanka – mehr als Folklore

„Stickerei“ oder „Bestickte Hemden“ – so kann man Wyschywanka übersetzen, ukrainisch Вишиванка, englisch transliteriert Vyshyvanka – waren schon im Altertum bekannt und werden bis heute vor allem in der Ukraine und Weißrussland getragen. Sie sind aber nicht nur schmuckvolle Kleidung, es steckt viel mehr dahinter. Und dem wollen wir uns heute einmal widmen. Zuerst ein Blick zurück in die Geschichte.

Bei archäologischen Grabungen fand man in skythischen Gräbern in Martynivka (Oblast Tscherkassy) Bronzefiguren mit einem Muster an der typischen Stelle, vom Hals über die mittlere Brust bis zum Gürtel. Auch auf alten Fresken, wie in der Sophienkathedrale in Kiew findet man Figuren, die Stickereien auf dem Oberkleid aufweisen. Und so finden sich über die Jahrhunderte immer wieder Hinweise auf Wyschywankas, gestickt auf einfachem Leinen. Betuchte Kosaken trugen Kleidung aus Seide, bestickt mit Blumenmotiven, mit Silber- oder Goldfäden durchwebt, ebenso die Kaufleute in Lviv. Es war also auch ein Statussymbol, was Material und Bestickung betrifft. Die heute typischen Muster entwickelten sich dann im 19. Jahrhundert. Man konnte dann schon sehr oft am Stickmuster erkennen, aus welcher Region der Träger kam.

Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts kam dann der fließende Übergang von traditionellen Kostümen hin zum Identitätsmerkmal. So findet man heute auf Bildern berühmter Ukrainer/innen, wie der ukrainischen Dichterin Lesja Ukrajinka oder dem Schriftsteller Iwan Franko die Wyschywanka in Verbindung mit normaler, europäischer Kleidung. Auch auf Accessoires wie Handtaschen ist das bekannte Wyschywanka-Muster zu finden und ein Ausdruck von Identität und Nationalstolz.

Ein weiterer Grund für die Verbreitung und Erhalt der Wyschywankas ist der Aberglaube, der ja heute noch ziemlich weit in der Ukraine verbreitet ist. Wikipedia schreibt dazu: „Wyschywankas an frühmittelalterlichen Kleidungsstücken sollen primär als Talisman fungiert haben. Die Stickereien wurden besonders an solchen Stellen angebracht, an denen böse Geister in den Körper der tragenden Person potenziell eindringen konnten: etwa entlang des Ausschnittes, dem Ärmelabschluss oder den Schultern.“ Und man darf auch nicht vergessen zu erwähnen, dass viele Frauen sich mit Stickereien ein Zubrot verdienten, selbst heute noch und es ist in der Ukraine ein weit verbreitetes, beliebtes Hobby. So auch bei meiner lieben Frau. Andere Frauen haben Schränke oder Kisten voller Schuhe, bei meiner Frau stapeln sich die Kisten mit Stickmaterial.

So seltsam es klingen mag, eine Blütezeit erlebte die Wyschywanka in der Anfangszeit der Sowjetunion in den 20er Jahren, übrigens auch die Ukrainische Sprache und Kultur im Sinne der kommunistischen „Ukrainisierung“. Die Bolschewiki verfolgten mit der Politik der Korenisazija (Einwurzelung) das Ziel, nichtrussische Völker in das kommunistische Reich einzubinden und unter ihnen die kommunistische Ideologie zu verbreiten, so war es Lenins Plan. Das Bild zeigt ein Plakat damals in der Ukraine, darauf steht: „Sohn! Tritt in die Schule der Roten Befehlshaber ein und die Verteidigung der Sowjetukraine wird gesichert sein.“

Das Ende der Korenisazija kam ziemlich schnell und wurde von einer regelrechten und alles unterdrückenden Russifizierung abgelöst. Darüber liest man in der Wikipedia: „Die Phase der Korenisazija, die in ähnlicher Form in der gesamten Sowjetunion durchgeführt wurde, wurde zunehmend von Repressionen Stalins gegen eingebildete oder tatsächliche nationalistische Abweichler in der Kommunistischen Partei begleitet, die sich allmählich über die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft mit folgender gewaltsamer Entkulakisierung bis hin zur Großen Terror-Säuberung Ende der 1930er Jahre steigerten. In dieser Phase der Stalinherrschaft konnte schon der Verdacht abweichender Meinungen das Todesurteil sein. Die nationalen Minderheitengebiete waren von den Säuberungen wegen des Misstrauens gegen Nationalisten besonders stark betroffen. Parallel zu diesen Ereignissen wurde auch die Korenisazija 1932–38 schrittweise beendet. Ein Zuzug russischer Facharbeiter und Funktionäre in die Minderheitengebiete wurde wieder gefördert, die Quoten für Minderheiten aufgehoben und die Bedeutung des Russischen in der Schulausbildung deutlich angehoben. Ergebnis war, dass am Ende der Sowjetunion bis auf wenige Restgebiete (Südtschetschenien, Osttadschikistan) praktisch die gesamte Bevölkerung auch fließend russischsprachig war.“

Zurück zur Wyschywanka. Diese blieb weiterhin ein Kleidungsstück für Festtage. Nach Stalins Tod erlebte sie wieder einen Aufschwung und wurde sogar in Massenproduktion hergestellt, weil Nikita Chruschtschow gerne eine Wyschywanka trug. Nach ihm ließ dieser Trend nach und fand erst wieder eine Renaissance mit der Unabhängigkeit der Ukraine. Männer wie Frauen zeigten sich zu festlichen Angelegenheiten wieder in Wyschywanka.

Seit dem Euromaidan und dem Krieg mit Russland erlebt die Wyschywanka und vor allem deren zahlreichen Muster einen beispiellosen, ja sogar internationalen Boom. Selbst die internationale Modewelt ist auf Kleidung mit ukrainischer Symbolik aufmerksam geworden und hat der Kreativität der Modeschöpfer neue Impulse verliehen. Wyshywanka, das ist heute Livestyle, ein Zeichen von Patriotismus und vor allem ein Statement und bedeutet:

„Mir ist das Schicksal der Ukraine nicht egal!“

Weiterführende Links

  • Ein Exkurs in die regionalen Besonderheiten würde den Rahmen in diesem Beitrag sprengen. Wer sich dafür interessiert, sollte die ukrainische Wikipediaseite besuchen.
  • Die Wyschywanka als Modetrend? Da habe ich drei Artikel in der Vogue gefunden [1] [2] [3]
  • Lust auf Wyshywanka? Dann folgt meinem Partnerlink zu Amazon.

 

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