Ein Wort zum ukrainischen Nationalismus

Hier ein Gastbeitrag von Kurt Simmchen. Er lebt seit 10 Jahren in der Nähe von Iwano-Frankivsk:

Zuerst ein Zitat aus dem Artikel „Putins Kleinrussen“ aus der Süddeutschen Zeitung:

Die Warnung Moskaus vor Extremisten und Faschisten, die jetzt im Nachbarland das Ruder übernommen hätten, ist ebenso zynisch wie maßlos. Zwar sitzen in der neuen Regierung in Kiew tatsächlich rechtsextreme Kräfte, die keine lupenreinen Demokraten sind, aber das kennt man ja in Moskau zur Genüge.

Wenn früher ein Dom oder sonst ein großes Gebäude errichtet wurde, dann wurde meistens nahe des Haupteingangs in der ersten, aus der Erde ragenden Fundamentschicht, der für dieses Bauwerk geltende Maßstab eingemeißelt. Damit wurde alles nach der gleichen Elle gemessen. Bei den Bauzeiten damals notwendig.
Heute bauen wir in Europa ein viel größeres Haus. Aber eine einheitliche Elle haben die ersten Baumeister nicht hinterlassen. Wie denn nun aber messen und wie sagen was zu klein ist?

Gegen jede Vernunft hat man sich in Berlin der Tatsache gerühmt, dass man den russischen Bären durch Handel und Wandel an die Leine der westlichen Werte gelegt hat. Der Bär ist aber gewachsen und zerrt nun gewaltig am anderen Ende der Leine.
Und mit Raubtieren ist das so eine Sache. Wenn die erst mal gelernt haben, dass der Mensch eine leichte Beute ist, nehmen sie diesen als Beute. Da hilft dann nur noch eine finale Lösung. Die Welt tolerierte nicht nur die maßlose Gewalt in Tschetschenien, sie entschuldigte nicht nur den Georgienkrieg, nein sie belohnte Putin noch mit der Vergabe der Olympischen Spiele in den Kaukasus. Das hat den damals noch kleinen Mischka raubgierig und blutrünstig gemacht.

Er hat gelernt, dass er alles darf und dass er in Bezug auf Europa und besonders Deutschland am Hebel sitzt. Wie lang der Hebel sein wird, werden die Unternehmen entscheiden, denn Sanktionen gehen vielleicht zu Lasten deren Gewinne. Damit stellt sich auch in Deutschland die Frage: Wie teuer dürfen Menschrechte sein? Vor allem, wenn es nicht die eigenen sind?

Doch zurück zu den rechtsextremen Kräften in Kiew. In Deutschland haben wir ein Problem mit den wirklichen Neonazis. Hier aber legen wir Wert auf die politische Auseinandersetzung, auf die Überzeugung. Vor der Haustüre oder auf anderen Grundstücken zeigen wir nur mit dem Finger drauf und rümpfen die Nase. Da sind wir wieder bei der Elle.

Während wir in Moskau die tatsächlichen und gefährlichen Nationalisten und Hakenkreuzträger mit Hitlergruß auf offener Straße übersehen, wenden wir uns in der Ukraine brüskiert ab, von Bewegungen, die aus der tiefsten Illegalität kommend, in den 20 Jahren der Legalität den einen oder anderen Schritt dahin stellten, wo es uns nicht gefiel.

Wo war hier die politische Auseinandersetzung, die Hilfe zur Orientierung? Sicher will niemand den Organisationen zur Befreiung der Ukraine ihr historisches Entstehungsrecht absprechen. Wie sie aber in der Neuzeit angekommen sind, liegt auch an den vielen Ellen und der Bereitschaft sich über eine gemeinschaftliche Elle auszutauschen!

Gegenwärtig konnte ich in der Maidanbewegung keine Entartungen entdecken, die man typischerweise den Rechtsextremen zuschreibt. Es gab keinen Hass zwischen den Ethnien und Religionen. Niemand „mischte“ Russen auf oder hetzte gegen Juden und Afrikaner.
Hier in der Westukraine, im Stammland der „Faschisten und Nationalisten“ ist alles ruhig, aber man ist wachsam gegenüber den Bestrebungen der Moskowiter.

Diskussionsbedarf sehe ich allerdings in Fragen der Semantik. Nehmen wir uns das Recht nur heraus oder woher haben wir es, unsere Sichtweisen auf Dinge und ihre Beschreibung zu verallgemeinern und andere daran zu messen? Nationalbewusstsein und Patriotismus zum Beispiel. Ab wann ist Nationalstolz chauvinistisch und abzulehnen?

Über die Verwendung der Worte wie Neger und Abwandlungen sind wir uns einig, aber auch „ernsthafte Kenner“ Osteuropas und der Ukraine bedienen sich gern nationalistischer Wortschöpfungen der „Russen“. Wie kann man das Volk aus dem die „Russen“ hervorgegangen sind, als Kleinrussen bezeichnen? Kommt da nicht schon die nationalistische Überheblichkeit zum Ausdruck? Haben wir uns zu schnell die Sichtweise und die Elle der Moskauer Herrscher zu eigen gemacht?

Als in Halytsch und Kiew schon getauft wurde, stand von Moskau noch nicht ein Holzbalken auf dem anderen, es existierte noch nicht! Sicher gefällt Ihnen das Video und vermittelt doch einen realen Eindruck.

Zur Herkunft der Ethnie "Russe" folgendes aus Wikipedia:

Das Gebiet, dass den Namen Rotreußen trug, wurde gegen Ende des 10. Jahrhunderts Teil der Kiewer Rus, als Großfürst Wladimir I. 981 gegen Polen zog und diese Region seinem Reich anschloss. Nachdem die Gebiete um Kiew im 12. Jahrhundert den Angriffen der nomadischen Steppenvölker, zum Beispiel den Polowzern ausgesetzt waren, migrierten große Teile der Bevölkerung in den Nordosten (Wladimir-Susdal) und in den Nordwesten (Halytsch-Wolodymyr) des Reiches, wodurch der wirtschaftliche und politische Aufstieg dieser Gebiete gefördert wurde.

Zur Westorientierung der Völker folgendes aus gleicher Quelle:

1215–1264 war Danilo Fürst von Galizien und Wolhynien. Unter seiner Herrschaft erreichte das Fürstentum den Höhepunkt seiner Macht. 1253 wurde er von einem päpstlichen Gesandten zum König der Rus (rex Russiae) gekrönt.

Die spätere Entwicklung ist den Okkupanten aus Moskau geschuldet!

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Herzlichen Dank Kurt. Wenn ich gleich noch etwas zu Kurts Beitrag hinzufügen darf: Anders als in Deutschland fand keine „Entsowjetifizierung“ und keine Aufarbeitung der Geschichte statt. Das fatale Ergebnis sehen wir jetzt. Auch die Abkehr von diversen Wörtern oder Sprüchen, über die man sich früher keine Gedanken gemacht hat und die wir heute gleich als rechtsextrem empfinden, dauerte in Deutschland Jahre und der Prozess dauert immer noch an. Auch die Ukraine muss und wird sich damit beschäftigen. Das erfordert Zeit, das geht nicht von heute auf morgen. Und es ist nur fair, diese Zeit auch diesem Land zuzugestehen!


 

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