Die tragische Geschichte der Kobzari, Lirniki und Banduristen Teil 2
Wie ich im ersten Teil schon andeutete, kommen wir jetzt zu einer sehr tragischen Seite in der Geschichte der Banduristen, welche Stalin erbarmungslos verfolgen lies. Viele Banduristen wurden ab den '20er Jahren verhaftet und sind spurlos verschwunden. Einige konnten das Land verlassen und gingen nach Amerika oder Kanada. Ungeheuerlich ist hingegen die Aussage des Komponisten Dmitri Schostakowitsch (1907-1975) in seinen Memoiren¹ :
In stalinistischen Zeiten wurde die nationale Kunst als Konterrevolutionär betrachtet. Warum? Sie ist durchsetzt mit Religion und alter Kunst. Und alles Religiöse sollte laut Stalin mit den Wurzeln ausgerissen werden. Ich hoffe, dass jemand diese Geschichte verbreitet, wie unsere einheimische Kunst in den 20er und 30er Jahren für immer zerstört wurde, weil sie mündlich überliefert war. Wenn man Volkssänger und wandernde Geschichtenerzähler erschießt, hunderte von historischen Werken werden für immer mit ihnen sterben, da sie nie aufgeschrieben wurden.
Ich bin kein Historiker. Ich kann jedoch viele tragische Geschichten erzählen, aber ich werde ihnen nur über einen Vorfall berichten. Eine schreckliche Geschichte, und jedes Mal, wenn ich daran denke, bekomme ich Angst, ich möchte mich am liebsten nie daran erinnern. Seit jeher sind die Volkssänger auf den Straßen der Ukraine gewandert. Sie hießen Lirniki und Bandurist. Sie waren meist blinde Männer – warum das so ist, ist eine andere Frage, deren Antwort ich nicht kenne, aber kurz, das ist traditionell. Der Punkt ist, sie waren blinde und wehrlose Menschen, niemand wagte sie zu berühren oder gar zu verletzen. Einen blinden Mann verletzen, was könnte niedriger sein?
Und dann, in der Mitte der 30er Jahre wurde der erste Allukrainische Kongress der Lirniki und Banduristen angekündigt. Alle sollten sich versammeln und diskutieren, was in Zukunft zu tun wäre. „Das Leben ist besser, das Leben ist ausgefüllter/glücklicher“ sagte Stalin und die blinden Männer haben ihm geglaubt. Sie kamen zu dem Kongress aus der ganzen Ukraine, aus winzigen, vergessenen Dörfern. Es gab mehrere Hundert von ihnen auf dem Kongress, sagt man. Es war ein lebendes Museum, die lebendige Geschichte des Landes war versammelt. Alle ihre Lieder, alle ihre Musik und Poesie. Und sie wurden fast alle exekutiert, fast alle dieser mitleiderregenden, blinden Männer getötet.
Warum wurde das getan? Warum dieser Sadismus? Töten sie diese Blinden, einfach so, weil sie sich nicht unter Stalins Füßen beugten! Es war im Land die vollständige Kollektivierung im Gange, die Kulaken waren vernichtet, und hier waren blinde Männer, die sangen. Aber die Lieder, die sie sangen, passten den Zensoren nicht. Und welcher Art Zensur kann man einem Blinden auferlegen? Du kannst einem Blinden keinen korrigierten, zensierten Text geben, wie soll er den lesen. Man müsste diese ihm vorlesen, aber das dauerte ihnen zu lange. Es war leichter, sie zu erschießen. Und so taten sie es.
Es gibt weitere Hinweise auf diese Tragödie, unter anderem in den Schriften des Dissidenten und ukrainischen Dichters Mykola Horbach. Richtiggehend perfide ist die verbreitete Version, dass die Musiker unter dem Deckmantel einer ethnographischen Konferenz eingeladen wurden, ihre musikalischen Werke sollten dort schriftlich festgehalten werden.
Offiziell bestätigt ist jedoch noch nichts. Wie auch? Die Wahrheit kennen wohl nur die russischen Archive. Erschwerend kommt hinzu, dass 1934 der Regierungssitz von Charkow nach Kiew verlegt wurde. Bei den Umzügen der Ministerien sind auch viele Dokumente verschwunden oder falsch eingeordnet worden. Aber die Hinweise verdichten sich immer mehr. Die Organisation einer solchen Konferenz wurde mittlerweile bestätigt, und es existiert eine Liste mit Banduristen, die in dieser Zeit starben oder verschwanden.
Die Konferenz soll im Dezember 1933 mit 300 Banduristen in der Nähe von Charkiv stattgefunden haben. Sie starben vermutlich in einer Schlucht, außerhalb der Stadtgrenzen. Die Lage der Gräueltat fand man erst kürzlich auf dem Territorium eines Erholungsgebietes, welches dem KGB oder NKWD gehörte. Es gibt also keinen Grund, der Geschichte nicht zu glauben. Im Zentrum von Charkiv wurde übrigens ein Denkmal an diese menschenverachtende Tat aufgestellt (siehe Bild).
Die Zeit der Repressionen, Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtung von Banduristen war jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Es gab dann bis 1937 eine Zeit, in der zwar viele Banduristen verhaftet und relativ kurze Gefängnisstrafen erhielten. Ab 1937 wurden jedoch wieder viele von ihnen ermordet. Belegt sind 41 Erschießungen und rund 100 Strafmaßnahmen (Straflager zwischen 10 und 17 Jahren). In den '50er Jahren starben eine Reihe von Banduristen. Sie hatten auffällig viele Unfälle, verschwanden spurlos oder wurden nach Sibirien deportiert.
Ab den '60er Jahren hatten die Kommunisten dann die völlige Kontrolle erlangt. Es begann eine Feminisierung, Männer wurden zur Ausbildung als Banduraspieler an den Konservatorien nicht zugelassen. Das Repertoire der neuen Generation von Bandura spielenden Musiker/Innen wandelte sich von den bekannten, historischen Balladen und Epen hin zu romantischen Liedern über Liebe, lyrische Werke und angepasste, klassische Klavierstücke.
Auch unter den Nazis wurden Banderisten verfolgt, es gab auch unter ihnen Hinrichtungen. Wie Dokumente belegen, versuchten die Sowjets jedoch, zahlreiche ihrer Opfer den Nazis in die Schuhe zu schieben.
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine wird versucht, die alte Tradition der Kobzari wiederzubeleben. Es gibt wieder Kobzar-Gilden in Kiew und Charkiv, sie bilden das Zentrum für die Verbreitung der authentischen, historischen Aufführungen. Überlebt hat die Tradition auf alle Fälle in der ukrainischen Diaspora. Auf http://www.bandura.org/ ist der bekannte „Ukraine Bandurist Chor“ aus Detroit zu finden.
Viele Banduristen, die zu Stalins Zeiten in Amerika ein neues Zuhause fanden, haben in Detroit den Chor, der 1918 in der damals unabhängigen Ukraine gegründet wurde, wieder auferstehen lassen. Und das wohl auch sehr erfolgreich. Sehr ergreifend war dabei das Jahr 1991. Der Chor kam in die Ukraine und spielte in 14 Großstädten. Die Aufführungen umfassten traditionelle Balladen und Instrumentalstücke und wurden mit großer Begeisterung gefeiert. Für ihre Arbeit, die ukrainischen Traditionen zu erhalten, wurde der Chor mit der höchsten Auszeichnung für Künstler geehrt, dem Taras-Schewtschenko-Staatspreis. Und auch ganz aktuell zeigen Sie ihre Verbundenheit mit der Ukraine und solidarisierten sich mit dem Euromaidan:
Den Kobzari hat auch der berühmte Nationaldichter, Taras Schewtschenko, mit seinem Gedichtsband Kobzar ein Denkmal gesetzt, in dem er es nach ihnen benannte. Und wer einmal den 100 Hriwna-Schein in der Hand hält, sollte ihn sich einmal genauer ansehen. Auf der Vorderseite ist Taras Schewtschenko zu sehen und auf der Rückseite ein blinder Bandurist mit seinem Begleiter.
Haben die Banduristen überlebt? Die Frage ist schwer zu beantworten. Ich fand diese Dokumentation über den letzten(?) der Kobzari, Ostap Kindrachuk. Und ich fand einige Straßenkünstler mit der Bandura sowie junge Musiker, die auf der Bandura spielen. Das Repertoire ist jedoch eher modernere Musik. Hier eine kleine Auswahl diverser Videos junger Banduristen, die ich bei Youtube fand:
- Der zumindest in der Ukraine bekannte Jaroslaw Dschus (Ярослав Джусь) nahm an einer der Talentshows teil und spielte ein bekanntes Lied von Myroslaw Skoryk.
- Hier seine Bandura-Version von Nothing else metters von den Scorpions.
- Oder wie wäre es mit dem Hit Lambada , gespielt von drei Banduristen?
Fakt ist, dass Banduristen fest mit der Geschichte der Ukraine verbunden sind
und nicht vergessen werden!
¹ Ich war so frei, den Text aus dem Englischen zu übersetzen. Sollten Rechteinhaber damit ein Problem haben, so bitte ich sie, sich einfach mit mir in Kontakt zu setzen. Danke!
Copyrighthinweise: Das Bild oben, das Denkmal eines Kobzari in Kaniv, stammt aus der Wikipedia. © by Marat Asanov (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons. Alle weiteren Bilder sind gemeinfrei.
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Jens, ein unschätzbarer Beitrag zum Kulturverständnis! Heutiges Banduristen-Leben ungeschminkt in diesem Bericht: http://ukrainischekinderkrebshilfe.de/cms/26-0-Nachbericht-Benefitzkonzert.html
Gibt es etwas Verbrecherisches, als Menschen ihre kulturellen Wurzeln zu nehmen, indem man die wehrlosen Kulturschaffenden ermordet? Mögen dies viele lesen, vor allem die, die "ihrem Stalin" noch hinterher trauern! Jens, ich danke dir ganz herzlich, dass du das "ausgegraben" und so dem Vergessen nicht preisgegeben hast.
Das Bandura Trio "Oriana" http://www.oriana-bandura.com.ua/de/