Cherwona Sloboda - Ein Dorf zieht um

Will der Reisende von Kiew nach Tschigirin oder weiter nach Krementschuk, so kommt er nach einer zweieinhalbstündigen Fahrt durch endlos scheinende Felder und kleine, beschauliche Dörfer direkt an den Dnepr. Der Dnepr! Mit über 2200km Länge ist er Europas drittgrößter Fluss, nach Wolga und Donau. Und wer sich die Liste der längsten Flüsse auf der Erde anschaut, sieht ihn gemütlich in einer Reihe mit dem Ohio, Arkansas- und dem Colorado-River in Amerika stehen. In den Waldaihöhen, nur 200km von Moskau entfernt, beginnt der lange Weg durch Russland, Weißrussland und die Ukraine – bis er im schwarzen Meer sein Ziel erreicht.

Heute stehen wir an seinem linken Ufer und sehen auf der anderen Seite, in 12km Entfernung, die Silhouette von Tscherkassy. Die Fahrt geht weiter. Sechzehn Kilometer geht es nun neben dem Bahngleis über den gewölbten Damm und dann über die 1km lange Stahlbrücke hinein in die Stadt. Schaut man während der Fahrt einmal nach Osten, entsteht der Eindruck, an einem Meer zu sein. Nicht zu unrecht sagt man hier im Sommer „Wir gehen ans Meer schwimmen“. Denn was wir hier sehen, ist der riesige Stausee des Krementschuker Staudamms.

Hat man Tscherkassy mit seinen Straßen – die an einigen Stellen den Namen leider nicht verdienen – hinter sich, sind wir im nächsten Ort am Ziel unseres heutigen Ausflugs, dem Dorf Cherwona Sloboda, meiner neuen Heimat. Klein ist das Dorf mit fast 10 000 Einwohnern nicht und es hat seine eigene, bewegende Geschichte. Ortseingangsschild von Cherwona SlobodaVon freien Kosaken, Bauern und Adligen Mitte des 17. Jahrhunderts gegründet, unterstand es lange Zeit polnischen Magnaten und wurde im Laufe der Geschichte von türkischen und tatarischen Horden heimgesucht. Das Dorf hatte verschiedene Namen. Bis 1913 hieß es „Цесарська Слобода“ – Perlhuhn-Erde. Während der Feier zum 300. Jahrestag der Romanow-Dynastie wurde dem Zaren Alexander II. ein Denkmal errichtet und das Dorf in Царська Слобода – königliche Erde umbenannt. Diesen Namen behielt es nicht lange. 1923, unter der Sowjetmacht, bekam es seinen heutigen Namen Червона Слобода – Rote Erde.

Auch der 2. Weltkrieg ging nicht spurlos an Cherwona Sloboda vorbei. 1941 wurde es von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Die Befreiung kam zwar Ende ’43, jedoch zog man die gesamte männliche Bevölkerung im wehrfähigen Alter ein. Zusammen mit dem Nachbardorf Zmahaylivka – welches später eingemeindet wurde – gingen 1500 Männer an die Front. Nur die Hälfte von ihnen kehrte lebend zurück. Dass man ungefähr 450 der Streiter für ihren Mut und Tapferkeit mit Orden und Medaillen ehrte, ist da nur ein kleiner Trost.

Aber auch nach dem Krieg gab es nur kurz eine Zeit der Ruhe. Ende der 50er Jahre wurde der Staudamm in Krementschuk errichtet und ein großer Teil des Dorfes musste umziehen, da das Gebiet in der zu flutenden Zone lag. Blick auf das Innere eines KarreesDie Menschen bekamen als Ausgleich neue Grundstücke zugewiesen, Straßen wurden angelegt, alle Häuser bekamen Anschluss ans Strom- und Gasnetz. Das neue Dorf legte man in großzügigen Karrees mit Parzellen zu je 0,12 oder 0,25 Hektar an. Die Häuser entstanden zur Straße hin, im Inneren des Karrees haben die Menschen genug Platz, etwas anzubauen. Diese Satellitenbilder vermitteln einen guten Eindruck und man sieht, dass es den nächsten Dörfern wie Leski und Hudjaki ähnlich erging.

großzügige AlleeViele der Straßen wurden weiträumig angelegt, vor den Zäunen gibt es Rasenstücke, Blumenbeete, viele Bäume und hier und da eine „Lästerbank“. Anders als in Deutschland hat niemand etwas dagegen, wenn man im Sommer von den Kirschen, Aprikosen oder Maulbeerbäumen nascht. Mancher Spaziergang ersetzt dann gleich die fällige Brotzeit.

Einfach haben es die Menschen auch hier nicht. Viele Betriebe und Kolchosen, die zu Sowjetzeiten für ein gesichertes Einkommen und einen bescheidenen Wohlstand sorgten, existieren nicht mehr. Politik ist kein so großes Thema, schon längst haben viele Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Gewächshäuser, Erdbeer- und Himbeerplantagen, sowie Viehzucht sichern vielen den Lebensunterhalt. Man handelt, kauft und verkauft auf den umliegenden Märkten und viele sind damit auch ganz zufrieden.

Und dann ist da ja noch der Stausee. Noch existieren einige Fischzuchtanlagen und Fischbetriebe, die zu Sowjetzeiten entstanden. Und das hat sich gelohnt! Immerhin entstand ein riesiges Reservoire mit 2252km² Wasserfläche – ca. viermal so groß wie der Bodensee, in der Größe vergleichbar mit dem Saarland. Nebenstehende Karte stammt aus den ’50er Jahren (Das Original ist bei Wikipedia zu finden) und zeigt das Gebiet vor der Aufstauung. Wer das mit den oben erwähnten Satellitenbildern vergleicht, bekommt einen guten Eindruck von dem Land um Cherwona Sloboda. Soviel Wasser und Fische vor der Tür, das weckt Begehrlichkeiten. Angeln darf man ohne Probleme, viele besitzen ein Motorboot – und Netze! Das Katz- und Mausspiel mit den „unterbezahlten“ Wächtern ist ein beliebtes Hobby für viele Männer im Dorf.

Wohin geht Deine Entwicklung, „Rote Erde“? Viele Menschen hoffen auf einen Beitritt in die EU. Wäre das wirklich der beste Weg? Ich bezweifle das. Zu lange und noch immer sieht Westeuropa den Osten als Zweitklassig an. Das mag aus wirtschaftlicher und ökonomischer Sicht in manchen Bereichen auch zutreffen, anders wertet die EU leider nicht – die Menschen sind es in keinem Fall! Ein Wort ist diesen Menschen noch etwas Wert, Nachbarschaftshilfe wird immer noch groß geschrieben. Und das Wichtigste: Die Menschen im Dorf werten nicht nach dem, was Du hast, sondern nach dem, was für ein Mensch Du bist und was Du kannst. Liebe Cherwona Slobodaner, lasst Euch das nicht nehmen!


 

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