Auswandern ist „in“ – aber wieso in die Ukraine?

Februar 2010, Ukraine: Unsere Enkelin Katja feiert ihren 6. Geburtstag. Während es draußen unaufhörlich schneit, sitzen wir im Warmen an einem reich gedeckten Tisch - die gebratene Gans duftet verführerisch. Nach dem 2. Glas Samogon kommt das Gespräch so richtig in Fahrt. Dieses Mal erzählen wir vom Leben in Deutschland. Ja, die Straßen sind gut und es ist sehr sauber in Deutschland. Die Häuser sind groß und schön. Und ja, wir verdienen ein Mehrfaches von dem, was in der Ukraine gezahlt wird.

Die Augen werden groß. Kein Wunder, die Swacha verdient als Melkerin nicht mal 200 Euro im Monat. Etwas ungläubig hören sie dann von der Kehrseite, den monatlichen Ausgaben. Miete, Nebenkosten, Auto, Versicherungen – dass wir auch für den Rundfunk zahlen müssen und alles, was wir zum Leben benötigen, gekauft werden muss. Und dann natürlich noch die monatliche Hilfe für die Kinder hier …

Es kommt auch das Thema auf den Infobrief der Rentenkasse meiner Frau, der neulich im Briefkasten lag. Wenn sie es schafft, noch 8 Jahre ohne Unterbrechung zu arbeiten, hat sie Anspruch auf 84 Euro Rente! Und wir erzählen auch von den Schwierigkeiten, einen halbwegs vernünftigen Job für Milla zu finden – außer Putzstellen und niedere Hilfsarbeiten. Dabei ist sich meine Frau als Ingenieurin – die früher über 100 Leute in ihrer Abteilung hatte – für nichts zu schade, zu allem bereit. Wenn die Entlohnung halbwegs stimmen würde. Das alles stimmt nachdenklich und die Zuhörer ahnen, dass in Deutschland doch nicht alles Gold ist.

Wir stoßen erneut an und es kam die Frage auf „Warum baut Ihr Millas Haus nicht fertig?“ Meine Frau hatte noch in den ’90ern angefangen, ein neues Haus zu bauen. Bis dann ihr erster Mann starb. Im Augenblick ist es nur ein Rohbau und wird als Abstellraum und Werkstatt genutzt. Am nächsten Tag schnappte ich mir meine Kamera und fotografierte das Haus und drehte auch ein kurzes Video vom aktuellen Zustand.

Und dann war die Idee erst einmal wieder vergessen. Wieder in Deutschland, nahm der Alltag seinen Lauf. Meine Frau fuhr täglich mit der Bahn zur Arbeit. In einem Bruchsaler Haus- und Gartenmarkt ist sie seit einigen Monaten Verkäuferin in der Gartenabteilung. Jeden Tag über 3 Stunden Fahrt, das nimmt sie in Kauf. Für die Arbeit mit Blumen und Pflanzen müsste sie eigentlich Geld mitbringen, denn hier ist sie voll in ihrem Element. Alles wäre Bestens, wenn da nicht dieser Altnazi von „kleinem Chef“ – Entschuldigung, ich meine „Lagerist“ wäre. Als dessen Sticheleien und kleinen Gemeinheiten überhand nehmen, beschwert sie sich beim Chef. Er hört ihr auch zu und zeigt Verständnis. Soviel Verständnis, dass sie am nächsten Tag ihre Kündigung bekommt.

Wieder einmal sind wir auf einem Tiefpunkt. Seit neun Jahren geht es nun auf und ab. Saisonjobs, befristete Arbeitsverträge und Zeitarbeit – meine Frau, Zooingenieurin mit 20 Jahren Berufserfahrung, hat in Deutschland keine Chance auf einen adäquaten Job. Und mit zunehmenden Alter wird es auch nicht besser. Hinzu kommt die Sehnsucht nach der Heimat, vor allem nach den Enkelinnen. Und ich selbst frage mich insgeheim, wie stark ist ihre Liebe zu mir, wie lange macht sie das noch mit?

Um sie etwas abzulenken, hole ich die Bilder und Videos vom Februar heraus. Milla erzählt mir wieder vom Leben in der Ukraine und kommt so richtig in Fahrt. „Was wäre, wenn…“ ist nun immer mehr ein beliebtes Gesprächsthema. Wir sind uns klar, leicht wird es nicht, das ist das Leben nirgends. Aber da ist dieses Haus, welches man fertig bauen könnte. Da ist der Stall, der Garten. Weiteres Ackerland pachtet man für kleines Geld. Wir könnten uns in vielen Teilen selbst versorgen, den Überschuss auf dem Markt verkaufen. Telefon und DSL-Anschluss ist auch da. Baumaterial ist auch kein Problem. Die Baumärkte wachsen wie Pilze aus dem Boden und stehen einem Hornbach, OBI oder Praktiker in nichts nach.

Wieder und wieder schaue ich mir die Bilder und Videos an, fange an mit Rechnen. Was muss am Haus gemacht werden, was kostet das ungefähr? Fenster und Heizung muss ich machen lassen, den Rest kann ich größtenteils selbst erledigen. 20 Jahre habe ich als Elektroinstallateur / Datentechniker gearbeitet, bis ich anfing, freiberuflich zu arbeiten. Ich habe also handwerkliche Erfahrung und keine 2 linken Hände. Und was Geld verdienen betrifft: als Webdesigner ist man relativ unabhängig vom Standort. Also! Warum nicht? Wir reden mit Millas Tochter in der Ukraine. „Ja, das wäre schön!“ ist ihre Antwort. Das Studium würde Nadja im Sommer abschließen und könnte mit ihren 28 Jahren endlich anfangen, selbst Geld zu verdienen. Wäre das nicht der perfekte Zeitpunkt, auch mal an uns zu denken?

Aber da gibt es soviel zu bedenken und zu beachten. Nehmen wir alles mit? Den ganzen Hausrat, alle Möbel? Man hängt an vielem, das wäre schon wichtig. Ich lasse Milla im Web nach einem Transportunternehmen suchen, welches uns zu einem vernünftigen Preis hilft und keine Vorauszahlung will. Von der rechtlichen Seite gibt es für meine Aufenthaltsgenehmigung keine Probleme. Immerhin sind wir seit 9 Jahren verheiratet. Es bedeutet zwar einen recht hohen bürokratischen Aufwand in der Ukraine, aber das schaffen wir schon. Vom Zoll erfahren wir, dass meine Frau bei einer Rückkehr in die Ukraine ihren Hausstand zollfrei einführen darf. Von Tag zu Tag nimmt die Idee realistische Formen an. Ende April findet Milla eine Transportgelegenheit für Juni. Wir überlegen nicht lange, das passt.

Mitte Mai ein Anruf. Wir könnten schon Ende Mai umziehen, eine Rückfracht wurde abgesagt und das Auto ist auch größer. Haja, warum nicht? Jetzt wird es zwar etwas stressig, aber mental sind wir schon in der Ukraine. Und so kam es dann auch. Nach einer 4-tägigen, ereignisreichen Fahrt über 2200km beginnt am 01.06.2010 ein neuer Abschnitt in unserem Leben - dem Leben in der Ukraine.


 

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