Gastbeitrag: Ein Urlaubstag in der Ukraine

Ich bin aufgewacht, ein Blick auf die Uhr verrät: Es ist erst 4 Uhr früh... ah, jetzt weiß ich auch warum: ein Hahn ist es, der meinen Schlaf unterbricht. Der Wind weht durch das weit offene Fenster die Gardine ins Zimmer, ich stehe kurz auf, gehe zum Fenster und genieße den Augenblick. Mein Blick wandert weit hinaus, raus über die Felder bis zum Horizont, wo sich erste Anzeichen der aufgehenden Sonne am äußersten Rand des noch dunkelblauen Nachthimmels erkennen lassen und atme die frische, angenehm kühle Nachtluft tief ein. Kein Auto, kein Flugzeug oder sonst etwas an Zivilisation Erinnerndes ist zu hören, nur ab und zu dieser Hahn, der mich aber nicht wirklich ärgert, denn ich mache Urlaub - Urlaub in der Ukraine. Nach ein paar Minuten lege ich mich wieder hin und schlafe auch rasch wieder ein...

Erneut aufgewacht um 8 Uhr morgens höre ich ein paar Ziegen gemütlich meckern - aha, Ludmilla melkt schon, oder füttert. Die Kinder sind bei ihr und machen mit, prima, dann gibts kein Gezanke. Meine Frau scheint noch nicht richtig wach zu sein. Ich bleibe noch einen Augenblick liegen. Der herein wehende Wind ist bereits etwas wärmer geworden und ich höre das fröhliche Geplapper der erntenden Dorfbewohner auf dem Acker, nicht weit von meinem Fenster. Sie ernten wohl die Kartoffeln denke ich. Tagsüber ist es dafür einfach zu heiß. Ein Feuerchen verbrennt die verbleibenden Pflanzenreste und knackt vor sich her, der Geruch erinnert mich an meine Kindheit, in der das Verbrennen auf Feldern auch in Deutschland noch erlaubt war.

Dafür werden in Deutschland jetzt fleißig Fungizide und Insektizide verspritzt, was man hier nicht braucht, weil diese Populationen durch das Abbrennen der Erntereste im Zaum gehalten werden.

Nun muss ich aber raus aus meinem schönen Bett, zum Frühstück soll es Brötchen geben. Mit meinem Stoffbeutel in der Hand schlendere ich die staubig-sandige Dorfstraße entlang zur nächsten Bushaltestelle. Straße ist eigentlich übertrieben, eher eine Sand-Stein-Piste mit riesigen Schlaglöchern, die sich bei Regen in kleine Seen verwandeln, so hatte ich es einmal nach einem Gewitter beobachtet. Doch jetzt ist alles pulvertrocken - wir haben Anfang August und es sollen heute wieder 39°C werden. Noch geht es, doch vorsorglich nehme ich jeden Schatten gerne mit, der sich auf meinem Weg anbietet. Die Schatten werden von den vielen Obstbäumen geworfen, die hier auf dem ca. 4m breiten grau-grünen Streifen zwischen den Grundstücken und der Straße in sozialistischen Zeiten angepflanzt worden sind. Grau-grün? Ja, es ist wirklich kein saftiges Grün mehr, eher ein Graues! Staub und Trockenheit haben dem Gras schon ordentlich zugesetzt. Die Obstbäume erfreuen jeden der vorbeikommt, denn Aprikosen und Pflaumen wachsen hier im Überfluss und man darf sich gerne etwas mitnehmen. Ein paar wilde Dorfköter machen sich respektvoll aus dem Staub, als ich um die Ecke biege und an der Bushaltestelle ankomme. Hier begegne ich auch den ersten Menschen an diesem Morgen, die freundlich meinen Gruß erwidern.

An der Bushaltestelle - wie an so vielen Bushaltestellen in der Ukraine - gibt es einen wunderbaren Tante-Emma Laden, so einer wie sie in Deutschland spätestens Anfang der 70er dichtgemacht wurden: Es gibt einfach alles, was auch ein Real hat, nur eben auf 1/100 der Fläche: Neben Waschmittel und Toilettenpapier stapeln sich Schreibhefte, Badelatschen, Bürsten, Spülmittel, dann kommen die Brote, Brötchen, Zucker, Mehl, Tee und Kaffee, vielerlei Gebäck, schließlich etwas Tiefkühlkost: vornehmlich Fleisch und Eis. Was man nicht bekommt sind Obst und Gemüse, denn das hat hier jeder selbst aus dem Garten. Nun ja, ein Regal mit Alkoholika gibt es natürlich auch noch. Der guten Frau hinter der Theke - frei zugänglich sind die Waren natürlich nicht - muss man immer schön brav aufsagen, was sie einpacken soll, wir sind hier schließlich nicht bei EDEKA! - Ich frage nach 20 Brötchen. Sie macht unmissverständlich klar, dass sie nicht gewillt ist, mir 20 Brötchen zu geben, da sie sonst nicht mehr genug für die nachfolgenden Kunden hat. So nehme ich 10 Brötchen und ein Brot. Das gleiche Spielchen mache ich übrigens schon seit 8 Tagen mit ihr. Sie könnte sich eigentlich morgens mehr Brötchen liefern lassen und dann auch mehr Umsatz machen. Aber das ist viel zu deutsch, zu betriebswirtschaftlich gedacht. Die Gewinnoptimierung ist hier noch nicht überall ganz angekommen. Und irgendwie ist das gut so. Weniger Hektik, mehr Gelassenheit. Ein Schwätzchen mit der Kundschaft ist hier wichtiger, als der letzte Griwna in der Kasse.

Auf dem Weg zurück zum Ferienhaus sehe ich einen wunderschönen alten Wolga aus den 60er Jahren am Straßenrand stehen. Hier auf dem Land gibt es, wenn man überhaupt Autos sieht, noch sehr häufig Autos der ehemaligen Sowjetunion. Ich mache ein Foto.

Im Ferienhaus angekommen erfahre ich von meiner Frau, dass wir für den Abwasch nach dem Frühstück noch Wasser brauchen. Das ganze Dorf gießt sein Gemüse, da hat die Leitung keine Chance! Der Tisch sei bis dahin auch fertig gedeckt. Für mich eine gute Nachricht, denn Wasser holen macht einfach Spaß. Nur 30m vom Ferienhaus entfernt in jenem grau-grünen Streifen, zwischen 2 Pflaumenbäumen, deren Zweige sich unter der Last ihrer vielen hundert Früchte nach unten biegen, befindet sich ein Ziehbrunnen, wie ich ihn bis dato nur aus Zeichnungen im Märchenbuch beim Froschkönig kannte: rund gemauert, mit Dach und Seilwinde, daran ein Zinkeimer, mit dem man glasklares, eiskaltes Wasser nach oben holt. Eine Flasche für den Kaffee, eine für den Abwasch gefüllt schlendere ich zurück. Die Flaschen sind so kalt, dass ich sie kaum festhalten kann.

Mit der Marschrutka („Minibus“) wollen wir in die Stadt zum Markt, uns mit Grillfleisch versorgen. An der Bushaltestelle sucht man vergebens nach einem Hinweis, wann oder welcher Bus wohin fährt. Sie kommen nicht so wirklich regelmäßig. Man stellt sich einfach hin und wartet. Irgendwann kommt er schon. Zeit spielt hier eine andere Rolle, als in Deutschland und tatsächlich, nach einer Weile sehen wir den Bus inklusive Staubwolke auf uns zukommen. Wegen der vielen riesigen Schlaglöcher fährt er Schlangenlinien und ist nicht besonders schnell - mir gefällt's, denn das ist Entschleunigung pur! Die Bus-Nummer ist durch ein mit Tesafilm an die Scheibe geklebten, großen Zettel gut zu erkennen, es geht also auch ohne die in Deutschland üblichen großen, elektrischen Beschriftungen vorne. Die Fahrkarten gibts beim Schaffner zu kaufen, eine meist ältere Dame, die vorne im Bus mitfährt.

Ihren Ticketvorrat - das sind weiße, blau oder rot bedruckte Papierrollen, von denen sie briefmarkengroße Stückchen abreißt, hat sie in der einen Hand, die Geldscheine in der anderen, die Münzen in der Gürteltasche. Die Kommunikation mit ihr funktioniert als Ausländer mit geringen Russischkenntnissen erheblich einfacher als mit einem vergleichbaren deutschen Fahrkartenautomaten eines Verkehrsverbundsystems! Mein Blick schweift durch den Bus: vorne im Bereich Fahrer-Schaffnerin sieht es sehr gemütlich aus. Teppiche sind ausgelegt, Heiligenbildchen, Fußball-Ikonen, Wohnungsangebote / Stellenanzeigen und Gardinen mit goldener Bordüre und Bommeln zieren die Windschutzscheibe. Ein Ventilator kühlt den Fahrer, der nicht viel mehr als eine Turnhose trägt. Es ist schon reichlich warm und der Bus hält häufig an, auch zusätzlich zu den Haltestellen, wenn Mütterchen am Straßenrand winken. Viele haben Obst und Gemüse in Kisten hereingeschleppt, die sollen auf dem Markt etwas Geld bringen und so langsam wird es enger, je näher wir dem Markt kommen. Niemand meckert, man ist geduldig und höflich. Es wird sich unterhalten - stumme Smartphone-Benutzer oder Kopfhörergedröhne gibt es nicht. Ich genieße die Fahrt. Die Schaffnerin kündigt jede Haltestelle rufend an, so verpasst man seinen Ausstieg auch ohne elektronische Anzeigetafel nicht. Fast alle fahren bis zum Zentralmarkt in der Stadt.

Eine Fläche, so groß wie 2 Fußballfelder. In der Mitte eine große Halle für Frischfleisch und Molkereiprodukte, drumherum Hunderte kleiner Händler. Es gibt alles. Also damit meine ich: nicht weniger als bei WALMART oder METRO. Von der Prepaidkarte fürs Handy über Schuhbänder, Gänseküken, Hundewelpen, Schmuck und Uhren bis hin zu, ja richtig - das wollten wir eigentlich - Grillfleisch! Weil es schon recht warm ist, kaufen wir gezielt nur dieses und sitzen schon bald wieder im selben Bus Richtung Naturstrand. Schaffnerin und Fahrer hatten in der Zwischenzeit im Schatten des Busses hockend eine Teepause gemacht. Sie lacht mich an, als wir wieder zusteigen. Ich erzähle ihr von unserem geplanten Grillen und Baden am Dnjepr-Strand und sie wünscht mir eine gute Zeit. Ich schwitze, obwohl ich einen Schattenplatz im Bus habe und freue mich schon sehr auf ein Bad im Dnjepr.

Von der Haltestelle sind es noch 300m bis zum Wasser. Die Grundstücke hier sind ebenfalls einheitlich groß, komplett umgeben von ca. 2m hohen Zäunen, meist aus Zinktrapezblechen. Hinter jedem Zaun meldet ein anderer Hund mein Vorbeigehen dem Hausherrn an, teilweise kennen wir uns schon. Mir fallen die vielen schönen Blumen auf, die hier vor die Zäune an den Straßenrand gepflanzt wurden. Zierpflanzen sind hier eher selten zu sehen, Nutzpflanzen sind in der Ukraine die Regel. Während die Hitze beim Verlassen des Busses noch unerträglich schien, kommt mir nun ein leichter Wind entgegen - ein gutes Zeichen, denn gleich sind wir am Ziel: der Dnjepr!

Ich spüre die Hitze des Sandes unter meinen Sandalen und stampfe durch eine Art „Sahara“: gut 8 km lang und 500 m - 1000m breit ist hier am Dnjepr-Ufer ein Streifen, der diesen Namen wirklich verdient hat: feinster, weißer Sand, in Hügeln bis 30m hoch aufgetürmt, dazwischen wieder Ebenen und Tümpel, voller Frösche und Schilf. In Deutschland wäre ein Stacheldraht darum gezogen und Schilder mit „Naturdüne - Betreten verboten“ aufgestellt. Hier geht man hinein, um sich zu erholen oder um Sand für die Baustelle zu holen, so wie ich es oft beobachtet habe. Die Luft flimmert und endlich sehe ich das unendliche dunkle Blau des Dnjeprs.

Ich liege im Dnjepr, Wasser bis zu den Schultern, auf dem Kopf ein tropfnasser Sonnenhut - so lassen sich 39°C gut aushalten. Das Wasser ist so warm, dass auch Haut-und-Knochen-Menschen wie ich nicht frieren, selbst wenn man mehrere Stunden so regungslos da liegt. Kleine Fische trauen sich bis an mich heran, lutschen sogar an meinen Füßen! Unter meinen Händen kitzeln winzige Krebse. Frau und Kinder sind weit weit draußen, spielen Wasserball - ich höre sie kaum, so weit sind sie. Stehen kann man auch dort draußen immer noch, so flach ist der Dnjepr hier. Ganz hinten rechts sehe ich in weiter Ferne den offiziellen „Badestrand“, 10 - 15 Menschen werden es dort wohl sein. Aber Surfer oder Motorboote gibt es hier nicht. Nach links geschaut stoßen am Horizont Wasser und Himmel zusammen. Diese Unendlichkeit wirkt sehr beruhigend auf mich, auch die Stille hier, denn um mich herum ist niemand. Leichte Wellen und Wind sind die einzigen Geräusche, die mich in schönste Träume wiegen.

Im Schatten der Sträucher liegend muss ich wohl eingeschlafen sein, als das Kinderlachen mich weckte. Grillen ist angesagt, die Sonne steht schon tiefer und alle haben Hunger. Wir graben ein Loch in den Sand, zwei Steine sind auch gefunden, schon kann es losgehen. Auch diese Freiheit ist mir in Deutschland verwehrt: Eifrige Bürger würden mich sofort anzeigen, „und dann auch noch im Naturschutzgebiet!“; hier ist es selbstverständlich und wunderschön. Auch „wildes Zelten“ wäre ohne weiteres möglich. Zugegeben: Die eine oder andere Plastikflasche und Verpackung habe ich hier schon weggeräumt, damit es gemütlich wird. Aber die finde ich genauso am Rhein, im angeblichen Hyper-Umweltland „Deutschland“. Als wir zum Heimweg aufbrechen, nehmen wir natürlich allen Müll wieder mit und graben das Grillloch mit der Asche wieder zu.

Es ist Abend geworden, die Temperaturen sind angenehm. In den Gärten seitlich des Heimwegs ist nun viel los: Es wird gegossen, geerntet, gehackt und verbrannt. Wie ein Schleier legt sich der Rauch über das ganze Dorf. An der Bushaltestelle gönnen wir uns erst mal ein Eis - als süßen Abschluss nach deftigem Grillen. Die Kirche mit ihren goldenen Kuppeln strahlt in der Abendsonne, als wir mit dem Bus vorbeifahren. Feierabend und Marktschluss lassen den Bus so voll werden wie am Morgen.

Ich liege wieder im Bett und der Wind weht mit der Gardine spielend etwas Kühle durchs offene Fenster. Es riecht ein wenig nach Feuer. Ein winziger oranger Streifen zeugt noch vom Sonnenuntergang, erste Sterne sind schon zu sehen. Kein Auto ist zu hören, kein Flugzeug, nur ab und zu heulen die Dorfköter. Hier kann ich glücklich einschlafen - hier in der Ukraine.

E N D E

Ganz herzlichen Dank an Gregor Brüster für seinen Beitrag!


 

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